Jean-Pierre Weiss. Ukrainebesuch aus meiner Sicht
Die Anfrage von MSh, etwas aus meiner Sicht zu seinem neuen Buch beizutragen, erreichte mich gerade, als ich am Aufräumen der Zimmer war, welche die Frauen und Kinder, bei der Rückkehr in die Ukraine, ziemlich unordentlich zurückgelassen haben. Der mir mittlerweile vertraute sanfte Parfümduft, schwebt noch immer durch das von ihnen genutzte Stockwerk unseres Hauses.
Zunächst muss ich erst Ordnung in meine ambivalente Gefühlswert bringen. Die unerwartet abrupte Аbreise unserer Mitbewohnerinnen, nach genau fünf Monaten, lassen meine Frau Maria und mich ziemlich ratlos zurück.
Jetzt, da ich mich durchgerungen habe, einen Beitrag zum Buch zu schreiben, liegt mir daran, dass die Leserin / der Leser sich bewusst bleibt, dass dieser Erlebnisbericht den Verlauf einer temporären Beziehung zwischen Individuen beschreibt. Mutmassungen zu Werteunterschieden oder — Übereinstimmungen sollten nicht leichtfertig generalisiert werden und der einen oder anderen Herkunftsgesellschaft als charakteristische Eigenschaft zugeschrieben werden.
Für uns begann alles Ende März, mit dem Anruf meiner langjährigen Freundin. und ehemaligen Geschäftspartnerin Barbara. Sie berichtete mir von einem gemeinsamen alten Bekannten aus der Ukraine, welcher sie angefragt hat, für seine Familienmitglieder auf der Flucht, eine Unterbringung in der Schweiz zu finden. Da meine Frau und ich schon mal vor zig Jahren Tamilischen Asylbewerbern, später einem Kurdischen Ehepaar, Unterschlupf gewährt hatten, waren wir natürlich auf Barbaras «Radar».
Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern, deren Schwiegermutter und die Grossmutter der Kinder, am liebsten zusammen, so die anfrage. Barbara bot an, zusammen mit ihrem Mann Thomas, die ganzen Behördenaufgaben zu übernehmen, wenn wir den Wohn- und Betreuungsbedarf abdecken würden.
Nun war es ja nicht so, dass wir unbedingt nach neuen Aufgaben oder Herausforderungen in unserem Leben suchten. Wir sind beide pensioniert, hatten und haben durchaus genug zu tun mit unserem kleinen Landwirtschaftsbetrieb und den sonst anfallenden Aktivitäten.
Wir sind nicht sonderlich interessiert an globalpolitischen Konfliktthemen und haben entsprechend wenig fundiertes Wissen vom Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Gesellschaftspolitisch sind wir jedoch überzeugt, dass eine «lebenswerte Welt» nur bestehen kann, wenn wir unser persönliches Altagshandeln umweltschonend und menschenwürdig ausrichten.
Wir erleben, dass in unserem näheren und weiteren Umfeld viel z.d. über die allgemeine Notwendigkeit debattiert wird, umweltschädigendes Verhalten einzuschränken, individuell dann aber doch mit dem Auto oder dem Flieger herumkutschiert wird, (selbstverständlich immer detailliert begründet, weshalb das genau in diesem speziellen Fall unausweichlich war).
Bei Anfragen zu den Schutzsuchenden aus der Ukraine dasselbe Muster. Zunächst grosse Empörung verbunden mit der ultimativen Forderung, man müsste unbedingt etwas unternehmen – gefolgt von: «Ich habe mir überlegt aufzunehmen, aber!.. Ich kann leider nicht», «Wir haben zu wenig Platz», «Ich würde es nicht ertragen, wenn eine fremde Zahnbürste neben meiner liegt», «Meine Kinder könnten verschüchtert werden, wenn sich Fremde in der Wohnung befinden», «Die Vorstellung meine Küche teilen zu müssen, ist unerträglich». Ich mache die Erfahrung, dass die Umsetzung humanistischer Ideale sehr oft an der fehlenden Bereitschaft scheitert, die persönliche Komfortzone verlassen zu müssen. Die Handlungsfähigkeit bei derartigen Herausforderungen ist natürlich immer sehr persönlich. Für Maria und mich und sicher auch für viele andere, kann diese Haltung keine ernsthafte Option sein.
Die auf die Anfrage folgende Diskussion mit meiner Lebenspartnerin war im Grundsatz schnell befürwortend entschieden. Natürlich sahen wir diverse Knackpunkte, die wir noch klären müssten: wie schaffen wir, jetzt in der kalten Jahreszeit, in so kurzer Zeit, zusätzlichen Wohnraum für fünf weitere Personen? Ist es für urbane Menschen, aus einer Millionenstadt, zumutbar, in diesem einfachen ländlichen Milieu, wie wir es zu bieten haben, zu leben? Wie kommunizieren wir, wir können kein Wort russisch oder ukrainisch sprechen? Wie vertragen wir längerfristig das Zusammenleben in einer Hausgemeinschaft, bei gleichzeitiger Benutzung von Bad, Küche, Wohn- und Esszimmer? (Und, und, und). Hunderte offene Fragen, die sich wohl erst durch konkrete Erfahrungen beantworten lassen.
Eine lustige Episode, welche schön illustriert, wie aus Vorurteilen und Spekulationen unbegründete bedenken und Vorsichtsmassnahmen entstehen können, war z.B. folgende:
Die einen zur Auswahl stehenden Schlafräume sind nur über zwei längere Holztreppen erreichbar. Beim Vorbereiten forderte Maria kategorisch, dass wir diese für uns nehmen damit der Ukrainische Familie unsere Zimmer mit weniger Treppen zur Verfügung stehen, weil den «armen alten Ukrainer Grossmüttern» das mühsame Treppensteigen nicht zugemutet werden kann. Beim Einzug stellten wir dann belustigt fest, dass die «armen alten Ukrainischen Babuschkas» recht fit und ausserdem fast zwanzig Jahre jünger waren als wir.
Am 22.März meldeten wir den Ukrainerinnen nach Warschau, dass sie am 29.März bei uns einziehen können. So hatten wir eine Woche Zeit, alles soweit herzurichten, dass wir vom Zweipersonenhaushalt auf eine siebenköpfige Hausgemeinschaft umstellen konnten.
Zum vereinbarten Termin trafen die Gäste, begleitet von Barbara und Thomas, welche sie vom Flughafen abgeholt hatten, bei uns ein. Die drei Zimmer standen geräumt, und für die neuen Bewohnerinnen einigermassen wohnlich hergerichtet, zum Bezug bereit. Für uns haben wir die nebenliegenden Atelierräume zum Schlafen hergerichtet.
Die erste Begegnung verlief recht unkompliziert. Die Zimmer waren schnell zugeteilt und da die Frauen wenig Gepäck hatten, waren diese auch bald eingerichtet. Beim gemeinsamen Imbiss besprachen wir mit Hilfe der deutsch Kenntnisse von Galina der jungen Mutter, den Russischkentnissen hauptsächlich von Thomas, und Google-Translate, die wichtigsten organisatorischen Punkte des Zusammenlebens in den kommenden Tagen. Da wir mit einem Holzofen in der Küche heizen und vorwiegend auch damit kochen, brauchte es etwas Spezialinstruktionen für diese «Stadtfrauen». Aus unserer Sicht, sollten die ankommenden jetzt erst mal zur Ruhe kommen können und ihre neue Umgebung kennen lernen.
Bei so engem zusammenleben werden unterschiedliche Lebensgewohnheiten rasch sichtbar und können leicht zu Missstimmung führen, wenn sie nicht geklärt werden. Z.B. Es ist für uns undenkbar, dass beim gemeinsamen Essen am Handy herumgespielt wird. Für die Ukrainerinnen war es selbstverständlich, jedem Kind (und sich selber) bei jeder Mahlzeit das IPad vorzusetzen um ein «Filmli» zu schauen. Ihrerseits waren sie sehr überrascht, ja fast entrüstet, bei uns nirgends einen TV vorzufinden, während dieser offenbar bei ihnen zuhause in jedem Zimmer den ganzen Tag läuft. Diese Unterschiede führte unter anderem dazu, dass wir entgegen erster Absichten, nur noch bei besonderen Gelegenheiten gemeinsame Mahlzeiten einnahmen.
Unsererseits hätten wir eigentlich gern abwechselnd gekocht, einmal nach ihren und einmal nach unseren Gewohnheiten. Hauptsächlich Galina schaffte es jedoch kaum, für sich und ihre Kinder, diesbezüglich Änderungen in ihren Essgewohnheiten einzugehen. Gewohnheiten beizubehalten, bzw. hier möglichst zu reproduzieren, war ihr sowieso sehr wichtig. Die Frauen und Kinder gingen täglich viel spazieren, wie sie das scheinbar von zuhause gewohnt waren. Am ersten Tag traf ich sie gemeinsam an, wie sie missmutig den Kinderwagen der Hauptstrasse entlang schoben. Auf mein Nachfragen hin erfuhr ich, dass sie auf der Suche nach dem Park sind. Dort wollten sie, wie sie sich das von zuhause gewohnt sind, «in der Natur» spazieren gehen. Es brauchte einige Tage, bis sie verstanden, dass hier «spazieren in der Natur» direkt in der umliegenden Umgebung stattfindet. Darauf wurde der Kinderspielplatz ihr favorisierter Aufenthaltsort.
Konnten wir sie gelegentlich dazu überreden, mit uns einen schönen Ort in der näheren Umgebung aufzusuchen, mit der Absicht, dass sie diesen dann auch selbständig finden würden, waren sie jeweils ganz begeistert, schossen dort Fotos von sich und den Kindern, gingen dann aber nie mehr hin.
Im Verlauf der Zeit entwickelte sich die Struktur des Zusammenlebens immer stärker vom Miteinander, zu einer Organisation eines reibungslosen Nebeneinander, so dass wir alle die unterschiedlichen Tagesrhythmen in den Gemeinschaftsräumen, möglichst individuell leben konnten. Diese Entflechtung gab den Frauen auch zunehmend die Freiheit, Esswaren zu kaufen, welche ihren Ernährungsgewohnheiten besser entsprachen.
Das Anmeldeprozedere mit den offiziellen Stellen in der Schweiz, präsentierte sich als viel aufwändiger als erwartet. Als unglaublich kompliziert erwies sich zunächst das Buchen eines subventionierten Deutschkurses, der die Integration der Frauen erleichtern sollte. Es dauerte ca. zwei Wochen bis die fünf Personen im Schweizerischen Bundeszentrum angemeldet werden konnten, elf Wochen bis das Solothurner Migrationsamt den S-Status erhoben hat und schliesslich geschlagene vier Monate, bis der regionale Sozialdienst ein erstes Gespräch mit den Schutzsuchenden aufgenommen hat um schliesslich die entsprechende Unterstützung zuzusagen. Dies natürlich stets begleitet von vielen Mailanfragen unsererseits, und den immer wieder sich gleichenden Fragebogen zum Ausfüllen.
Entsprechend unserer Aufgabenteilung übernahmen Barbara und Thomas die Mehrheit der Behördenarbeit, während sich Maria und ich darum kümmerten, die jeweils wieder neu verunsicherten Frauen mental zu stützen.
Zeitnah und viel erfreulicher erlebten wir die Anteilnahme aus der Bevölkerung. Wir machten einen Aushang im Dorfladen, mit der Bitte um saisonale Kleiderspenden. Schon einen Tag darauf meldeten sich Frauen mit passenden Kleidern, Spielsachen und sogar Esswaren. Besonders berührt haben uns die persönlichen Kontaktangebote an die Ukrainischen Frauen, durch Frauen aus dem Dorf. Auch zeigten sich erste Kinder, welche die siebenjährige Svetlana zum Mitspielen einluden. Mit Beginn der täglichen Deutschkurse für die Erwachsenen und dem Besuch der Dorfschule für Svetlana, stellte sich bald so etwas wie ein «Normalalltag» ein. Fester Bestandteil war und blieb dabei stets der enge Kontakt mit der Herkunftsfamilie in der Ukraine und einzelnen Familienmitglieder in anderen Ländern. Ebenfalls musste Svetlana regelmässig Aufgaben lösen, welche von ihrer Lehrerin in der Ukraine elektronisch zugestellt wurden.
Rückblickend ein paar Impressionen zur soziale Einbettung: Traf ich die Frauen bei einer stationären Verrichtung, wie z.B. Gemüse rüsten, Kochen , Essen, oder abwaschen, waren sie stets über Handy im Gespräch mit irgend einem externen Familienmitglied. Sie trafen wohl keinen Entscheid, ohne sich vorher mit einem ihrer Männer, oder zuweilen der grossen Schwester elektronisch beraten zu haben. Ein sehr berührendes Bild traf ich eines Abends an, als Galina in der Küche am gemüserüsten war, neben sich auf dem Spültisch das Handy das ihren Ehemann auf dem Sofa sitzend zeigte, der ihr schweigend bei der Arbeit zuschaute.
Anna war sehr sportlich und offenbar zuhause Fitnessinstruktorin. Es wurde möglich, dass sie jede zweite Woche eine Lektion in einer bestehende Pilatesgruppe geben durfte. Für sie ein unglaubliches Highlight, welches sie zum Strahlen bringen konnte. Diese Aufgabe ermutigte sie auch sehr, Sportanleitungen in deutscher Sprache einzuüben und anzuwenden.
Herzlichen Kontakt konnten Maria und ich hauptsächlich mit den beiden Kindern aufbauen. Beim Spielen und gemeinsamen lachen mit dem kleinen Mikhail, bei Velofahrten oder kurzen Ausflügen zu unseren Schafen mit Svetlana, konnte zunehmend Vertraulichkeit entstehen. In Abwesenheit der Erwachsenen gelang es auch recht gut eine sprachliche Verständigung zu entwickeln. Die Resonanz der Erwachsenen, auf unsere «freundlich» gestimmten Beziehungsangebote, würde ich im Allgemeinen jedoch eher als «höflich» bezeichnen.
Als sehr schönes Ereignis erinnere ich mich an unseren gemeinsamen Osterfeiern. Zunächst begingen wir sie mit Ostereiersuchen und ausgiebigem Frühstück nach unseren Traditionen, eine Woche später luden uns die Frauen zu traditionell Ukrainischen Osterspezialitäten ein.
Der Abschied kam fast noch unerwarteter als die Ankunft der Ukrainerinnen. Für kommende Woche planten wir eine Sitzung mit einer Übersetzerin, um Fragen des Zusammenwohnens im Winter und mögliche bauliche Anpassungen dazu zu besprechen. Bei der Terminsuche erfuhren wir beiläufig, dass die Ukrainerinnen bereits Flugtickets für ihre Rückkehr in fünf Tagen gelöst haben. Auch wenn durch diesen Wegzug unsere Sorgen für die Winterzeit mit einem Schlag weggewischt wurden, machte uns diese unerwartete Nachricht sehr betroffen.
Der Abschied gestaltete sich dann zwischen herzlich und geschäftig. Am 1. September begleiteten wir die Familie morgens um fünf Uhr auf den Bus, wonach sie dann von Barbara und Thomas zum Flughafen gefahren wurden.
Auf unsere E-Mailanfrage einige Tage später, benachrichtigte uns Galina, dass sie gut zuhause angekommen seien und bereits wieder so etwas wie einen «normalen» Alltag, mit Arbeit und Schule leben würden.
Jean-Pierre Weiss, Kleinlützel, 30.September 2022
(Ursprüngliche Rechtschreibung)
- Jean-Pierre Weiss. Ukrainebesuch aus meiner Sicht - 25 января 2023
- Украинцы в Швейцарии. Точка зрения герра Вайса - 25 января 2023
Maria und Jean-Pierre vor dem Haus Empfangsfoto für die ukrainische Gäste. Kleinlützel, 28.März 2022. (© Jean-Pierre Weiss)
Schneemannbauen vor dem Haus mit Anna und Mikhail und Svetlana. Kleinlützel, 4.April 2022. (© Jean-Pierre Weiss)
Kleinlützel aus süd/osten betrachtet. 11.April 2022. (© Jean-Pierre Weiss)
Wanderung mit Ukrainerinnen mit Dorfbesichtigung. Kleinlützel, 17.April 2022. (© Jean-Pierre Weiss)
Jean-Pierre und Maria Essen im Garten. Kleinlützel, 2.August 2022. (© Jean-Pierre Weiss)
Galinas Abreisevorbereitungen. Kleinlützel, 1.September 2022. (© Jean-Pierre Weiss)
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